Das Paradies war meine Hölle Als Kind von Missionaren missbraucht by Christina Krüsi
Autor:Christina Krüsi [Krüsi, Christina]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426418406
Herausgeber: Knaur e-books
veröffentlicht: 2013-05-13T16:00:00+00:00
Teenager
Es war unser drittes Jahr in der Schweiz, als meine Mutter ihr sechstes Kind zur Welt brachte. Mein Vater war inzwischen Schweizer Direktor von Wycliffe geworden und sehr viel unterwegs. Einerseits war ich stolz auf ihn, andererseits fehlte er mir auch.
Denn die Verhältnisse in unserer Familie waren für mich extrem belastend. Mein 16-jähriger Bruder hatte sich noch immer nicht in der Schweiz zurechtgefunden. Einmal stand ein wütender Förster vor der Tür: »Frau Krüsi, Ihr Sohn hat einen wertvollen Baum gefällt. Das ist strafbar, ich werde Ihren Sohn anzeigen!« Mit Müh und Not konnte meine Mutter ihn davon abhalten. Sie erklärte ihm, dass wir im Urwald aufgewachsen waren und Philip dort oft mithelfen musste, Bäume zu fällen. Der Förster war derart erstaunt über diese Antwort, dass er für dieses eine Mal auf eine Anzeige verzichten wollte.
Immer wieder schaffte es Philip, auf solche Weise mit dem Schweizer Gesetz in Konflikt zu kommen.
Mit seinen neuen Freunden hielt er sich fast immer im düsteren Musikkeller unserer Siedlung auf. Meine Mutter war völlig überfordert und mit den Nerven am Ende, manchmal war es so schlimm, dass sie schreiend aus dem Haus rannte. »Ich komme nie mehr zurück«, hörten wir noch von ihr und sahen sie dann für einige Stunden nicht. Ich übernahm so lange schweigend ihre Rolle, machte den Haushalt, kochte und hütete die Kleinen, tröstete sie und machte mit ihnen Hausaufgaben. Kam meine Mutter dann zurück, gab es für alle eine Strafpredigt. Ich liebte sie trotz allem und versuchte ihr zu helfen, wo ich konnte. Meine kleinen Geschwister brauchten Schutz und Erziehung und meine Mutter Trost. Immer wieder lag sie mit Migräneanfällen oder krank im Bett, und ich fühlte mich dann für alles verantwortlich.
»Weißt du, Christina, jetzt würde ich am liebsten einschlafen und nie wieder aufwachen«, stöhnte sie so manches Mal. Ich tröstete sie. Diese Sprüche waren mir nicht neu. Ich bemühte mich noch mehr, für alles zu sorgen, damit sie sich besser fühlen würde. Ich war für das Backen von Brot und Zopf für die gesamte Familie zuständig, half mit der Wäsche und kochte oft, ging einkaufen, hackte Holz und werkelte im Garten.
Immer wieder beteten wir am Tisch, dass wir Geld für Esswaren bekommen würden. Oft stellten uns Bauern aus unserer Kirchengemeinde Gemüse und Kartoffeln vor die Tür. Wir dankten Gott für die Erhörung unserer Gebete. Doch heimlich wünschte ich mir, unser Vater hätte einen ganz normalen Beruf und würde genügend Geld für uns alle verdienen. Wenn ich von Fremden oder in der Schule nach dem Beruf meines Vaters gefragt wurde, sagte ich, er sei Sprachforscher, Linguist. Denn inzwischen war es mir peinlich, dass er ein Missionar war.
Auch gegen die regelmäßigen Kirchgänge sträubte ich mich innerlich immer mehr. Kaum hatte ich Anschluss in der Jugendgruppe gefunden und mich mit einigen Mädchen angefreundet, merkte ich, dass ich auch hier nicht sicher vor neuen Tätern war.
Innerlich spürte ich, dass in dieser Gemeinde etwas nicht stimmen konnte, ich fühlte die Gefahr regelrecht. Konnte es sein, dass auch hier in der Schweizer Kirche Missbräuche stattfanden? Ich wehrte mich gegen solche Gedanken, doch leider wurde meine Intuition bald bestätigt.
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